Einleitung
Marketing und Demokratie
Eine demokratische Gesellschaft gründet sich auf menschliche Erfahrung, Kognition, Diskussion und Reflexion. Von grossen Teilen der Bevölkerung wird erwartet, dass sie an dieser Gründung durch eigene Beiträge teilnehmen. Aber was geschieht, wenn die demokratische Basis zunehmend unter den Einfluss von Sonderinteressen gerät? Wenn die kommerzielle Werbung – als Institution verstanden – so stark wächst, dass die menschlichen Lebensräume und der öffentliche Diskurs allgegenwärtig von gekauften propagandistischen Mitteilungen durchsetzt werden und ein unregulierter Markt für die Exposition dieser Mitteilungen etabliert wird? Wenn gleißende Bildschirme verpackte Botschaften in öffentliche und private Räume ausstrahlen, Filme und Musik voller Werbeunterbrechungen sind und Warenzeichen in allen möglichen Zusammenhängen gezeigt werden? Sind diese Phänomene in der Demokratie unschuldig?
Marketing ist gekaufter Einfluss auf unsere Umwelt. Es verbreitet ansprechend verpackte Information, um Produkte zu verkaufen und Markenzeichen zu pflegen. (Und je mehr die politischen Akteure Marketing-Techniken in ihrer Kommunikation einsetzen, desto mehr wird die Politik selbst am Markt angebotenes Produkt). Eine gesellschaftliche Entwicklung, die schon seit Jahrzehnten im Gange ist, ist die drastische Zunahme der Expositionsfläche des Marketings gegenüber den Menschen. Allmählich hat die Werbung eine zentrale Rolle in Wirtschaft, Öffentlichkeit und gesellschaftlichem Leben eingenommen, eine Rolle, die immer noch täglich größer und bedeutender wird. Es übt durch geschickte Positionierung, ständige Wiederholungen und raffinierte Oberfläche der jeweils verpackten Information einen starken Einfluss auf die Vorstellungen und Entscheidungen der Menschen aus. Durch die Medientechnik, die Schwächung des etablierten Marktrechtes und den Ausbau der käuflichen Zone im Dasein und in der Welt hat die Macht der wirtschaftlich mächtigen Institutionen über Millionen von Menschen stark zugenommen. Zur gleichen Zeit gibt es aber ein seltsames Schweigen über diese Tendenz in dem öffentlichen Diskurs und in den Massenmedien – obwohl jeder es tagtäglich spürt im Körper und im Sinne. Wahrscheinlich ist diese Tendenz darauf zurückzuführen, dass große materielle Interessen diese Entwicklung unterstützen sowie darauf, dass die Exposition großer Mengen von Marketing als selbstverständliches Merkmal der offenen Gesellschaft und als eine natürliche Folge der gestiegenen Möglichkeiten der Verbreitung von Information erscheinen kann.
Eine offene Gesellschaft ist geprägt von Äusserungsfreiheit, und alle Akteure sind im Prinzip in der Lage, mit allen anderen Akteuren zu kommunizieren. In Wirklichkeit ist aber dieses Prinzip der universellen Kommunikation viel zu grob: es ignoriert wesentliche Voraussetzungen und wichtige Unterscheidungen, die gemacht werden müssen, wenn man nicht den Wirklichkeitsbezug verlieren und sich in abstrakten Ideen verlieren will. So viele unterschiedliche Medien, Mechanismen, Standorte und Arten von Informationen gibt es, so viele Situationen, in denen Akteure mit unterschiedlichen Rollen, Absichten und Interessen irgendwie mit Informationen verbunden sind. Daher ist es wichtig, sorgfältig zu bestimmen, von welcher Information man spricht und in welcher Hinsicht. Der Gedanke liegt nahe, dass Regeln für verschiedene Arten und Aspekte von Information unterschieden werden sollten. Zum Beispiel ist es doch ein großer Unterschied, ob Information als Unterbrechung in einer Fernsehsendung, als Prospekt auf einer Messe oder im öffentlichen Straßenraum verbreitet wird; ob sie auf Aufforderung oder unaufgefordert den Adressaten erreicht; ob der Absender eine Institution oder ein Individuum ist; ob die Vebreitung der Information Ausdruck einer kommerziellen, gemeinnützigen oder politischen Tätigkeit ist; und ob sie in einem Archiv verfügbar ist, über aktive Navigation im Netz erreicht wird oder medial exponiert wird. Beim Studium von Marketing wird schnell klar, dass Marketing eine Art von Information ist, die mehrere charakteristische Merkmale hat: sie gestaltet unsere Umwelt in einer besonders aggressiven und dabei systematischen Weise. Es ist unvermeidlich, dass eine solche Transformation des Lebensraums von Belang ist für diejenigen, die in ihm leben, und dass eventuelle Beeinträchtigungen der Umwelt problematisch sind und begründet werden müssen. Marketing gehört den sozialen Phänomenen an, die betrachtet, diskutiert und reflektiert werden müssen – wenn wir die Voraussetzungen schaffen wollen, einen sinnvollen Rechtsrahmen zu entwerfen, wenn wir Systeme der Wertsubstanz und Wertvielfalt bevorzugen, wenn wir eine von Bürgern gestaltete und gesteuerte Gesellschaft anstreben.
Mentale Belästigung
Die Möglichkeit, große Mengen von Informationen zu produzieren und zu verbreiten, bedeutet nicht, dass Menschen in ihrem täglichen Leben überall ihnen ausgesetzt sein sollen. Exponieren – bestimmten Informationen mit medialen Mitteln eine privilegierte Präsenz in bestimmten Orten und Zeiten zu bieten – ist eine bedeutende Handlung: offenbar sind wir von der Informationsexponierung beinflusst, und oft handelt es sich um eine Belästigung. Werbung beispielsweise trifft uns in Augenblicken, in denen wir unsere Aufmerksamkeit auf Anderes gerichtet haben, und das tun wir ja als Menschen fast immer: sie bricht, um nicht zu sagen: zerbricht unsere Aufmerksamkeit. Dieses kann mit grösserem oder kleinerem Erfolg geschehen, sobald aber wir eine Exposition identifizieren, ist sie schon in unseren Sinn eingebrochen. Wie sollten wir uns zu solchen Phänomenen stellen? Ist es hinzunehmen, dass institutionelle Informationssender die Allgemeinheit mental belästigen und manipulieren dürfen, wo immer, wann, wie und wie viel es ihnen gefällt? Insoweit das Marketing in der Breite und Tiefe weiter wächst, ist das eine Zustandsbeschreibung. Wie wird eine solche Praxis in der Gesellschaft begründet? Würde unsere Kenntnis von der Welt und den Produkten ohne sie fehlen? Würden ohne sie unsere Begehren und Bedürfnisse sterben? Warum sollten wir eigentlich damit einverstanden sein, dass störende und irreführende Informationen uns von allen Richtungen beschiessen, während wir nichts als unsere Leben zu leben versuchen? Worauf zielt es, und wessen Interessen dient es? Kaum jedenfalls den Interessen des Menschen als Bürger und als Menschen.
Alle Phänomene in Leben und Gesellschaft sind Teil größerer Zusammenhänge. Sie sind mit Ganzheiten verknüpft, von welchen sie ihr Material, ihre Nahrung und ihren sozialen Halt beziehen. Die grösseren Ganzheiten, aus welchen das Marketing schöpft, sind die mentalen Vermögen des menschlichen Daseins, wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Erkenntnis. Wie allgemeint bekannt, sind es eben solche Ganzheiten, auf die sich die Exposition des Marketings richtet. Wenn man sich nicht mit einer isolierten Betrachtung einer einzelnen Exposition begnügt, sondern den Blick erhöht und die aggregierten Effekte des Marketings ins Visier nimmt, spricht viel dafür, dass die mediale Absorption menschlicher Ressourcen umfassend ist. Sie ist aber nicht immer leicht zu identifizieren. Das beruht darauf, dass die Marketingphänomene fragmentarisch ausgeworfen über dem ganzen Dasein und der ganzen Gesellschaft sind, dass die vorherrschende ökonomistische Ideologie ihren Sinn entwertet und schließlich dass die Marketingphänomene zugegebenermaßen winzige Verschiebungen in der physischen und mentalen Infrastruktur der Gesellschaft verursachen, welche aber aggregiert umso schwerwiegendere Folgen zeitigen.
Aber was ist mit der Meinungsfreiheit und des Grundrechtes auf freie Rede – gerade auch im öffentlichen Raum? In einer demokratischen Gesellschaft ist es doch ein grundlegendes Recht, sich im Prinzip ausdrücken zu dürfen, wann man will, wo man will und wie man will? Ja, im Prinzip. In allen vernünftigen Gesellschaften aber wird dieses Recht von anderen Rechten und Werten balanciert und begrenzt. Zum Beispiel ist es ja nicht selbstverständlich, dass es jedem frei stehen soll, mit Absicht 5 Meter von einem fremden Begräbnis zu brüllen und zu schreien, ein 60 Meter hohes Schild auf seinem Grundstück zu errichten, das das Landschaftsbild zerstört, die freie Sicht für die Allgemeinheit blockiert und ihr seine privaten Mitteilungen aufzwingt. Oder wie ist es mit Unterbrechungen in Filmen gerade an den emotional oder ästhetisch empfindlichsten Stellen? Neben dieses grundsätzliche Verhältnis tritt als Begrenzung der Äusserungsfreiheit noch ein anderes Verhältnis von äusserstem Gewicht: sowohl nach allgemeinem demokratischen Grundprinzip als nach (schwedischem) Grundgesetz kommt die Äusserungsfreiheit in erster Hand einzelnen Menschen (Bürgern) zu, und nur mit gewissen Vorbehalten Institutionen. Institutionen – juristische Personen gesteuert von physischen Personen – können auch Äusserungsrechte haben. Dass aber sämtliche institutionelle Akteure, auch z.B. kommerzielle Unternehmen, einen genau so grossen Äusserungsschutz für ihre Äusserungen beanspruchen können sollen wie die Bürger, ist keineswegs selbstverständlich. In Wirklichkeit ist es ein vernünftiger Ausgangspunkt, dass sie nicht dasselbe Recht haben sollen wie Bürger – würde das doch den demokratischen Grund der Gesellschaft unterlaufen. Institutionen sind nicht das Subjekt und der Zweck der demokratischen Gesellschaft. Welche Rechte Institutionen haben sollen, beruht wesentlich darauf, welche wir als Bürger meinen, sie haben sollten.
Medientechnik, Ökonomismus, Konsumismus
Wie kommt es denn, dass wir heute so stark von Marketing bestürmt werden? Viele Faktoren haben zu dieser Entwicklung beigetragen, darunter neue technische Möglichkeiten, ein härterer globaler Wettbewerb im privaten und öffentlichen Sektor, ideologische Verschiebungen und veränderte Lebenseinstellungen. Ich werde nicht beanspruchen, die Ursprünge unserer Situation historisch zu erklären, aber ich will wenigstens drei Faktoren als Hintergrund zeichnen. Diese Faktoren sind: (a) die starke Weiterentwicklung der medialen Technik für die Exposition von Information, (b) der Ökonomismus als die vorherrschende Ideologie auf der politischen Ebene, und (c) der Konsumismus als die herrschende Kraft auf der individuellen Ebene.
(a) Medientechnik. Seit langem gibt es systematisch entwickelte medientechnische Arrangements, die es den Informationssendern ermöglichen, überall die Allgemeinheit gerichteten Mitteilungen auszusetzen. Im Laufe der letzten Jahrzehnte sind diese Arrangements radikal gestärkt worden durch den Durchbruch der digitalen Technik, was eine umfassende Transformation der Gesellschaft mit sich gebracht hat. Die Medientechnik gibt uns Zugang zu unerhörten Massen von Information und nie früher dagewesene Möglichkeiten, Information herzustellen, zu vervielfältigen und zu vermitteln. Von der vollen Tragweite und sämtlichen Folgen des Wandels können wir aber nur Vorahnungen haben. Wenigstens scheint es sehr wahrscheinlich, dass medien- und informationstechnische Apparate, Mechanismen und Möglichkeiten eine wichtige Rolle in der künftigen gesellschaftlichen Entwicklung haben werden. Die hervorgewachsenen digitalen Netzwerke ermöglichen eine augenblickliche globale Verbreitung von enormen Massen von Information. Das ergibt Möglichkeiten für Menschen, Gesellschaft und Kultur, aber birgt auch Risiken mit sich. Hier darf man nicht die Augen davor verschliessen, dass es keine anderen Wege als die politischen gibt, wenn man mit Rationalität und Verantwortung sämtliche tangierten Werten wahrnehmen und verwalten und angemessene gesellschaftliche Gesetze und Regeln schaffen will. In dieser Lage ist es natürlich aktuell, auch Regeln für das Marketing zu diskutieren, da auch es von den neuen Möglichkeiten profitiert, und zwar sehr offensiv.
(b) Neben dem technischen und wirtschaftlichen Raum, den mediale Arrangements eröffnen, sind Ideologien eine starke Kraft für den Einfluss von Institutionen auf die Gesellschaft. Der ”Ökonomismus” als ideologisches Grundprinzip für die Organisation der Gesellschaft zielt darauf, aus den übergreifenden Ganzheiten des Daseins, der Natur und der Gesellschaft Verkäufliches – ”Produkte” – zu schaffen und zu verbreiten – Produkte, die wiederum Teile der Märkte sind, in denen sie zirkulieren, und die Aufgabe haben, sämtliche wichtigen Werte zu organisieren und deren führendes Ziel schließlich Maximierung der Handelstätigkeit ist. In Zusammenhang damit wird alles, was nicht Produktform hat, d.h. auch menschliche, natürliche und gesellschaftliche Ganzheiten und Werte, seines wesentlichen Einflusses auf die Organisation der Gesellschaft beraubt. Für die Versorgung mit Rohmaterialien ist die Wirtschaft kritisch abhängig davon. Einige Beispiele von menschlichen, natürlichen und politischen Werten wesentlicher Art sind: Gleichgewicht im Ökosystem, Artenvielfalt und Konstellation der Landschaft (Natur); zwischenmenschliches Vertrauen, Zivilcourage und politische Tugenden (Gesellschaft); Erkenntnisse, Reflexionsvermögen und Aufmerksamkeit (Mensch). Diese Formen und Funktionen sind nicht ein mal für alle festgelegt, sondern veränderlich; unter anderem sind sie von den Formen, Mechanismen und Grenzen der Wirtschaft abhängig. Eine bemerkenswerte Tatsache des Ökonomismus ist, dass er seiner Konstruktion entsprechend diesen übergreifenden Ganzheiten keinen selbständigen Wert zuschreibt. Die Teile und Ganzheit der Natur, die Teile und Ganzheit der Gesellschaft, die Teile und Ganzheit des menschlichen Daseins – nichts hat einen Wert, es sei denn auf mittelbare und umgemachte Weise. Also wird im Ökonomismus nur das, was Produktform hat, als Wert geschätzt. Alle Weltanschauungen haben einen Ausgangspunkt und eine Kategorisierung, aber nicht alle haben eine gleich enge Form wie der Ökonomismus. Nicht verwunderlich ist dann, dass die politischen Entschlüsse, die heute in hohem Mass oder ausschliesslich auf ökonomischen Kalkülen nach neoliberalen Grundannahmen basieren, oft so stark verdreht werden, dass sie auf menschlichen, natürlichen und gesellschaftlichen Ganzheiten und Werte zehren.
(c) Der ”Konsumismus” schliesslich ist gewissermaßen eine Konsumattitüde und ein Lebensstil, welche danach streben, dass immer so viel und teure verpackte Produkte wie möglich erworben werden – auf Kosten von diversen individuellen und kollektiven Werten. Damit das System seinen höchsten und einzigen Wert – Konsummaximierung – realisieren kann, muss es ja Konsumenten geben, die mit ihrer Konsumnachfrage die Produkte kaufen können. Hier findet auch das Marketing seinen Platz als eine Kraft, die die menschliche Produktgier steigert. In ihren Grundannahmen sind der Ökonomismus und der Konsumismus kongruent und intim verknüpft: der Konsumismus ist ein maximierendes ökonomistisches System von der Position des Konsumenten betrachtet, er ist die menschliche Form des Ökonomismus in einem desinformierten demokratischen System.
Zwecke und Operationen des Textes
Dieser Text ist eine politisch-philosophische Abhandlung mit sowohl theoretischem als politischem Zweck. In theoretischer Hinsicht will er auf philosopischem und soziologischem Weg die Erkenntnis und Einsicht von Werbung und Marketing in der Gesellschaft schärfen und vertiefen. Es gibt nicht wenig Literatur über Marketing, sie ist aber in den allermeisten Fällen für Werber gedacht und praktisch ausgerichtet. Und ist sie von theoretischer Art, geht sie in der Regel von dem Interesse des Absenders aus und schliesst sich ohne Weiteres den ökonomistischen und konsumistischen Annahmen der dominierenden wirtschaftlichen Theorie an. Nähert man sich aber dem Marketing von aussen und reflexiv, wird ersichtlich, dass es sehr wohl möglich ist, einen anderen Blickwinkel zu wählen und dass das Marketing noch weit davon entfernt ist, vollständig verstanden und beschrieben zu sein. In dem vorliegenden Text versuche ich, eine tiefere und konsequentere Auffassung zu gewinnen, indem dass drei theoretische Operationen zu einer Werksganzheit zusammenführt werden.
Es ist (a) eine fundamentale Analyse von Marketing in Theorie und Praxis. Die Theorie wird vor allem im Teil 1 gegeben, weil die Praxis besonders im Kapitel 3 im Teil 2 präsentiert wird. Marketing wird als Exposition von verpackten Mitteilungen, die den Empfänger verstören und ihn von ihrem Inhalt irreführen mit dem Zweck, den Empfänger zu einem bestimmten Verhalten zu beeinflussen, gedeutet. Dabei ist die Perspektive also die des Empfängers, nicht die des Absenders. Im Kapitel 3 führe ich eine Analyse von Phänomenen und Milieus der heutigen Gesellschaft durch, die Beispiele von der Desinformation durch Marketing geben. Diese Analyse versorgt die ganze Untersuchung mit empirischem Material, um die theoretischen Momente Substanz, Haltepunkte und konkrete Beispiele zu geben. In sich ist das Material grösstenteils weder neu noch originell. Es besteht vor allem aus Beobachtungen, die wir alle, die in dieser Gesellschaft leben gezwungen werden zu erleben, die aber nur selten die Bedeutung, die sie verdienen, bekommen.
Desweiteren enthält der Text (b) eine Einordnung des Marketings in einen grösseren gesellschaftlichen Zusammenhang und eine Anweisung des Verhältnisses des Marketings zu seiner menschlichen und gesellschaftlichen Umgebung. Diese Textoperation ist hauptsächlich dem Teil 2 zugeordnet, wohingegen Kapitel 3 mit seinen gesellschaftlichen ”Topiken” eher empirisch ist. Die späteren Kapitel sind schließlich eher analytisch. Es ist eine gesellschaftsphilosophische oder soziologische Kritik des Marketings als Teil der heutigen Lebenswelt, und ein Studium, wie es die Voraussetzungen aller Wertrealisierung beeinflusst (nicht nur die Realisierung der Produktwerte – das gängige Verfahren in Wirtschaftswissenschaft als Disziplin). Zur Hilfe hole ich Gedanken von Soziologen, Philosophen, Medientheoretikern, Marketingforschern und anderen Denkern.
Letztlich kommt eine dritte theoretische Operation (c), diesmal von konstruktiver und zukünftiger Art. Hier werden Ideen zu veränderten Exponierungsregeln, die die Sinne des Menschen in höherem Masse in Ruhe lassen, vorgelegt, und wichtige Konsequenzen werden angedeutet. Inwiefern die Veränderungen möglich sind zu realisieren wird in letzter Instanz auf politischem Willen beruhen. Diese mehr utopischen Ideen werden in dem abschliessenden Teil 3 vorgelegt.
In politischer Hinsicht bezweckt das Buch eine Frontverteidigung der Demokratie gegen den Angriff des ”Exponierungssystems”. Es will die systematische Entblössung und Irreführung von Menschen, auf denen das exponierende Marketing baut, in engen Grenzen halten, und befürwortet öffentliche Systemressourcen, um weit bessere Voraussetzungen für eine qualitative Meinungsbildung und ein weiter verbreitetes öffentliches Gespräch zu schaffen als es derzeit möglich ist in einer von Desinformation durchtränkten Gesellschaft. Es ist mein Glaube, dass das die zentrale Bedingung ist – über die Fundamenta des Rechtsstaates hinaus – damit die gesellschaftliche Ordnung und Entwicklung von einer qualifizierten demokratischen Willensbildung bestimmt werden können. Dazu gehört auch eine Lebenswelt, in welcher Menschen sich wohl fühlen und Sinn erleben. Wir leben nach und in Abhängigkeit von unseren Lebensbedingungen: schlechte Erkenntnis-, Reflexions- und Gesprächsbedingungen münden mit der Zeit in ein schlechtes Gesellschaftssystem. In uns haben wir vielfältige menschliche und soziale Impulse, Ebenen und Mechanismen – wie wir alle wissen, auch aggressive, widervernünftige und problematische -, und was realisiert werden und florieren kann, beruht in hohem Masse auf den Verhältnissen in unserer Umgebung und auf dem vorherrschenden ideologischen Regime. Welches System walten soll und welche Weltanschauungen von den Regeln gefördert beziehungsweise gegenarbeitet werden sollen, sollten folglich bestimmt werden durch Prozesse, die Blendwerke und Manipulation aufgrund von Desinformation entlarven und durchbrechen können.
Zustandekommen und Methode
Als Getroffene und Geschädigte der Desinformation werden wir tagtäglich an die Problematik erinnert. Dieser Prozess ist schon lange im Gange. Nachdem das Marketing in einer schleichenden Entwicklung seine Gegenwart in der Gesellschaft über ein Jahrhundert lang gestärkt hat, hat es während der letzten Jahrzehnte radikal zugenommen, und die Exponierungsfläche und Zahl der Medien sind heute grösser als jemals früher. Der Hauptteil der Arbeit an diesem Buch wurde in febriler Aktivität 2008-2012 ausgeführt, aber die ersten Ansätze zur Analyse und das Hintergrundlesen haben sich in mir schon viele Jahre früher bewegt. Die Erkenntnis vom Marketing ist gespalten. Einerseits kennen wir es alle, da wir unser ganzes Leben unverschuldet ihm ausgesetzt gewesen sind, andererseits scheint es auch nicht unter Fachleuten und Forschern eine eindeutige und vollständige Terminologie von ihm zu geben (noch weniger eine zusammenhängende Theorie).
Das Projekt zielte zuerst darauf, in ein kleineres Essay über ein verstörendes Gesellschaftsphänomen zu münden. In dem Kleinen aber lag das Grössere: fast sogleich ist der Textkörper um mehrere Mal gewachsen, und die Fragestellung wurde sowohl tiefer als auch weiter als gedacht. Ich habe eingesehen, dass es sich um eine generelle gesellschaftliche Gestalt handelt und dass das Thema kaum seriös zu behandeln ist ohne an politische Verhältnisse in der gesellschaftlichen Umgebung dieser Gestalt anzuknüpfen. (Und wenn wir eine Demokratie haben wollen, muss alles was eine nicht-negligierbare gesellschaftliche Bedeutung hat, politisch betrachtet werden können. Das ist ja auch, was jeder von uns irgendwie macht, wenn er in politischen Wahlen seine Stimme abgibt.) Meine Hoffnung ist, dass die Nachforschung und das Raisonnement zu einer ganzen Philosophie des Marketings gewachsen und damit wenigstens ein Ansatz zur kritischen Marketing- und Marktforschung ist. Der Text hat sich frei entwickelt, nur von meiner Gewissheit von der grossen gesellschaftlichen Bedeutung und paradoxen Versäumtheit des Themas getragen. Der Inhalt ist geworden durch eine langzeitige systematische Observation, ein zielbewusstes Suchen in wissenschaftlicher und anderer Literatur in mehreren Fächern, und als Vermittlung dazwischen eine dialektische Reflexion. Die Definitionen, die im Text gegegeben werden, sind keine ewige Wahrheiten, sondern als pragmatisch und angemessen für die Untersuchung und das Thema zu betrachten.
Das Studienobjekt ist nicht, semiologisch, die Bedeutung von einzelnen Marketingäusserungen und ob sie einen ideologischen Inhalt haben, z.B. in Form von Genus- oder Berufsschablonen. Solche Fragen sind wichtig, gehören aber nicht zum Thema dieser Untersuchung. Stattdessen wird erforscht und analysiert, wie eine materielle, mediale und mentale Infrastruktur in der heutigen Gesellschaft funktioniert: wie die medialen Exponierungen eines Absenders einen strategischen mentalen Raum bei der Allgemeinheit erobern, und welche verstörende und manipulative Effekte das mit sich bringt. In gewisser Weise kann die Analyse als eine Erweiterung von Barthes` klassischen zeichentheoretischen Analysen betrachtet werden, dadurch dass unter seine objekt- bzw. metasprachliche Ebene eine dritte Ebene eingeschossen wird mit den materiellen Trägern und der Infrastruktur der Medien.
Einige Anmerkungen zu Referenzen und Fussnoten: Manchmal fungieren die Noten in traditionell verifizierender Weise als empirischer Beleg für Behauptungen in dem Text. Oft aber haben sie eher andere Funktionen: sie beleuchten meinen Gedanken, zeigen hoffnungsvoll fruchtbare Assoziationen auf, oder zeigen, dass andere ähnlich gedacht haben. An gewissen Textstellen, welche die Phänomene berühren, denen besonders grosse Aufmerksamkeit erwiesen wurde, bildeten sich veritable Wespennester in Noten. Die Werke und Schriftsteller, an die ich anknüpfe an spezifischen Textstellen, sind im Literaturverzeichnis angegeben. Aber ebenso wichtig wie Influenz ist ein weites früheres Lesen und Denken im Anschluss an die Tradition, besonders die deutsche, der westlichen Philosophie und Gesellschaftswissenschaft. Es kann wohl gesagt werden, dass mindestens ein wesentlicher Ausgangspunkt der Untersuchung in dem theoretischen Rahmen von Habermas steht, mit dessen Unterscheidung zwischen Lebenswelt und Systemwelt bzw. demokratische Idealen von gleichen, nicht-verdrehten Kommunkationsbedingungen.
In der Forschung sind Abgrenzungen immer nötig. Ich habe die Untersuchung auf das verstörende und irreführende Informationsexponieren des Marketings in verschiedenen Medien, zusammen mit damit zusammenhängenden Fragen in der heutigen schwedischen Gesellschaft, begrenzt. In Anbetracht der Ähnlichkeit des Marktrechtes in verschiedenen Ländern im Westen, sollte sie in ziemlich hohem Grad auch für andere westliche Länder gelten, möglicherweise auch für andere Länder, die stark von Marketing geprägt sind. Diese Abgrenzung impliziert, dass mehrere wichtige und aktuelle Fragen, die mit Information verknüpft sind, ausser Betracht der Untersuchung fallen. Dazu gehören die empfindlichen aber gewichtigen Fragen bezüglich des Regelwerkes für die Erfassung, Behandlung und Kommerzialisierung von persönlichen Daten durch öffentliche oder private Institutionen. Dazu gehören immaterialgüterrechtliche Fragen wie die Rechtsregeln für Urheberrecht, Markenrecht und andere private Ansprüche hinsichtlich Werten, die nicht unbedingt Produktform haben und privat sein müssen. Dazu gehört die Diskussion über ein Recht zur Überwachung und Aufnahme von Personen und Geschehnissen auf öffentlichem und privatem Platz. Dazu gehören die vielen Fragen (ausgenommen ein paar Andeutungen in diesem Text), die mit digitalen Medien zusammenhängen. Dazu gehören die Ideen von einem potentiellen Recht für Menschen auf Information, die vor allem durch die Entwicklung von digitaler Informationstechnik aktualisiert wurden. Dazu gehören auch die vielen technischen Fragen der Informationstechnik. Und dazu gehören schliesslich auch die Diskussionen darüber, wie das Massenmediensystem gestaltet werden sollte (Fragen, die prekär sind durch die intime Kopplung der Massenmedien mit der Meinungsfreiheit).